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Aktuelles

14.05.2017

Lohbrügge – oder Sankt Petersburg? Eine Dienstreise: Wie weit weg ist Russland wirklich?

Ties Rabe

Mitte der 1950er Jahre, mitten im Kalten Krieg, bat eine Delegation aus dem damaligen Leningrad den verdutzten Hamburger Senat um die Städtepartnerschaft. Die Adenauer-Regierung lehnte die Bitte „der Kommunisten“ ab – aber der Senat sagte zu. Das war klug und weise. Hatten doch deutsche Truppen von 1941 bis 1944 die Stadt eingekesselt und rund 700.000 Leningrader mit furchtbarer Absicht in einen qualvollen Hungertod getrieben. Ein beispielloses Kriegsverbrechen im Rahmen des Russland-Feldzuges, bei dem die Deutschen so gewütet haben, dass selbst der IS harmlos wirkt. Und gerade zehn Jahre später reichen die Russen ihren einstigen Peinigern die Hand. Wäre es vermessen zu sagen, dass das ungefähr so wäre, als ob die Stadt New York am Mahnmal des World-Trade-Center den Terror-Islamisten in Afghanistan eine Städtepartnerschaft anbieten würde? Ein Akt des Verzeihens, den Hamburg nicht vergessen darf, Putin hin oder her.

In hanseatischer Pflichterfüllung hatte ich der Delegation der Hamburger Schulbehörde ein Mammutprogramm zugemutet: 16 offizielle Politik-, Schul- und Ministeriumstermine in zweieinhalb Tagen. Stadtbesichtigung? Ja, einmal, und zwar von 21.30 bis 23.00 Uhr... Wir waren schließlich nicht zum Privatvergnügen da. Was bleibt in Erinnerung?

Erstens: Russische Schüler sind so normal, wie es Hamburger Schüler nur sein können. Zwar gibt es Versuche, eine Art Schuluniform durchzusetzen, aber sonst? Handy-Gedaddel, ein bisschen unordentlich geführte Schulhefte, Quatsch machen, toben auf dem Flur, ermahnende und lächelnde Lehrer, kaspern im Unterricht. Das hat mich überrascht. Ich hatte irgendwie Drill erwartet, Antreten in Reih und Glied, Pauken und Gehorsam. War nix.

Zweitens: Russische Lehrer – gibt es (fast) nicht. Es gibt nur Lehrerinnen. Wer sich über die hohe weibliche Quote in der Hamburger Lehrerschaft wundert, kennt Russland nicht. Und die Pädagogik? Kann man beim Staatsbesuch schlecht erfassen. Aber nach dem ersten Eindruck: erstaunlich normal. Man darf sich von den kraftvoll gestärkten Frisuren der Lehrkräfte nicht blenden lassen: Der Umgangston ist kinderfreundlich.

Drittens: Zensur und Überwachung – kann sein, für unsere Delegation aber kaum zu bemerken. Im Gegenteil. Bei unserem Schulbesuch in der Schule 72 – übrigens Partnerschule des Gymnasiums Lohbrügge – plauderte die Schulleiterin auf Deutsch mit unserer Delegation und gab bereitwillig auf jede (!) Frage Antwort, während die Begleiter aus dem Bildungsministerium staunend daneben standen und kein Wort verstanden. Fachfragen konnten hemmungslos erörtert werden. Zum Beispiel: Wie viele Turnhallenfelder bekommt eine Schule für 700 Schüler? Hamburg: 2,5, Sankt Petersburg: 1. „Das geht nur, wenn man auch draußen Sport macht“, sagt die Schulleiterin. Und im Winter bei minus 15 Grad? „Wieso, da kann man joggen oder Schneeballschlachten machen“, sagt sie. Ach so.

Und wie groß sind die Schulklassen? 22-27 Kinder, Hamburger Durchschnitt. Lustig sind dagegen die Klassenräume. Überall Gummibäume, Geranien und andere Topfpflanzen – so mancher Klassenraum erinnert an das Wohnzimmer meiner Oma. Und dazwischen: In jeder Klasse ein Computer. Wozu das denn? „Wir haben die alten Klassenbücher abgeschafft und führen jetzt in allen Schulen elektronische Klassenbücher“, erzählt der Mann aus dem Ministerium stolz. Die Hamburger Delegation ist verblüfft: In den Zukunftsszenarien der Hamburger Schulbehörde ist zwar von elektronischen Klassenbüchern die Rede – aber bis jetzt hat niemand geglaubt, dass das wirklich funktionieren könnte. „Wie haben Sie das denn technisch und logistisch durchgesetzt?“ fragt ein Spitzenbeamter aus Hamburg. Der Mann aus dem Ministerium verzieht seine Mine: „Fragen Sie nicht – raten Sie mal, warum ich nur noch so wenig Haare habe...“

Und das Ministerium? In Erinnerung bleiben eine große Freundlichkeit, Zugewandtheit und ein großes Interesse an Hamburg. Die Bildungsministerin und ihr Stab haben sich wirklich hinreißend Mühe gegeben, der Hamburger Delegation offen ihre Stadt und ihre Schulen zu zeigen. Und auch das letzte Vorurteil wurde ausgeräumt: Bei den drei offiziellen Mahlzeiten mit unseren Gastgebern trank niemand (!) Wodka. Wer hätte das gedacht. Vielleicht sind Schulmenschen ein bisschen anders als andere Politiker. Oder Russland, wenigstens aber Sankt Petersburg, ist gar nicht so weit weg, wie wir denken.